Euphelia schmunzelt. Diese kalte, klare Nacht mit dem Vollmond um 0.48 Uhr wollte Conny so ganz verrückt für einen Nachtspaziergang nutzen. Der sogenannte Wolfsmond war in dieser Nacht etwa 401.000 km entfernt, viel weiter geht nicht. Ganz bis zu ihm hätte sie es nicht geschafft, doch ein Kilometer sollte wohl drin sein. Sie hatte sich alles zurecht gelegt und bis nach Mitternacht gelesen, um ja nicht die Zeit zu verpassen. Dann lugte der Mond sehr auffordernd sogar in ihr Fenster hell, dick und rund und klar – und kalt. Sie kuschelte sich in ihre warme Decke, zog diese bis zur Nasenspitze, entschuldigte sich beim Mond und schlief tief und fest bis zum Sonnenaufgang.
Windgeschützt und in voller Sonne könnte sie am liebsten schon Blumen pflanzen, auf der anderen Seite des Hauses steht jedoch noch der Schlitten, blitzt noch ein Rest Eis auf der Pfütze. Doch die Farben zwischen Sonne und Wolken, im Osten am Morgen, im Westen zum Sonnenuntergang sind Naturschauspiele in zauberhaftem Pastell. Da ziehen Bilder am Himmel entlang, die Märchen erzählen, welche die Seele auftanken lassen. Sicher ist der Winter noch lange nicht vorbei. Aber wenn es auf den Februar zugeht, ahnt man bereits die ersten Schneeglöckchen. Sie läuten Lichtmess ein. Dies war früher die Zeit, wo Knechte und Mägde ihren Dienstvertrag lösten und sich um eine neue Stelle bemühten. Altes hinter sich lassen. Conny träumt noch immer davon, am Morgen aufzuwachen und das Draußen ist wie damals, der komische Film der letzten beiden Jahre beendet. Doch wenn Torsten sie kneift, dann ist schnell klar, dies ist weder Film noch Traum. Trotzdem kämpft sie darum, tagtäglich ihre Talente und Begabungen zu entdecken, auszuprobieren, sich neuen Dingen zu öffnen, sich großen Aufgaben zu stellen, um helfend und nützlich zu sein.
Wenn es in Zeiten wie diesen (oh, was für ein Spruch, wenn er schon so lange zutrifft) hier im Bücherhotel so viel ruhiger zugeht, dann denkt sie oft: Oh, das könnte ich ja auch noch erledigen. Oh, das kann man ja jetzt nebenbei noch schaffen. Oh, das wollte ich schon immer mal ausprobieren. Und dann: Plötzlich hat auch ein solcher -ruhiger- Tag nur 24 Stunden. Wie dumm! Was hat sie doch früher an einem Tag alles geschafft. Kennt jemand diesen Satz, diese Denke?
Nun ist also heute auch schon wieder Abend. Natürlich verließ sie nicht gleich bei Sonnenaufgang das gemütliche Nest, sondern haderte erst einmal mit sich selbst, wegen der Unzuverlässigkeit eines nicht eingehaltenen Vorhabens, von dem übrigens außer dem Mond niemand etwas wußte. Es wollte gekuschelt und sich noch einmal umgedreht werden, und dann mußte sie sich selbst davon überzeugen, daß es sinnvoll ist, nicht gleich mit dem Buch in der Hand den Tag im Bett zu beginnen, sondern, naja, irgendwie anders. Diese Überzeugungsarbeit hielt an bis zum ersten Kaffee. Dann war es geschafft und der Rechner im Büro flimmerte voller Tatendrang. Nach den nächsten drei Absagen und vier neuen Buchungen war das Maß an emotionaler Stärke zunächst verbraucht. Immerhin ein Schritt vorwärts.
Also besuchte Conny ihre beiden verläßlichen triebhaften Freunde. Edoard schrie nach Fütterung, Edelgard zeigte sich stark und zufrieden, sozusagen einsatzbereit. So wurde die umtriebige Edelgard Grundlage für ein Experiment, ein Rote-Beete-Brot. Dieses liegt jetzt als wahrhaft roter wachsender Ballen im Gärkorb und erwartet weitere Aktivitäten am nächsten Morgen.
Gegen Mittag sortierte Conny zwei Kisten neu eingegangener Bücher, ein Fundus, über den später zu berichten sein wird. Gleichzeitig entschied sie einige wenige Geschichten, die am Nachmittag vorzulesen waren, denn Vollmond sollte heute traditionell wieder eingeläutet werden. Anders als im letzten Jahr brauchte Conny heute keine Plüschtiere als Publikum, sondern hatte sechs Gäste, die mit ihr lasen, hörten, blauen Tee tranken, Eis im naturnahen Grün aßen, strickten, stickten, plauderten, lachten.
Kerzen brannten, die Füße steckten in Socken oder Decken, der Blick ging ganz bewußt nach vorn. Es wurde geträumt, phantasiert, Visionen standen als riesige Gemälde mitten im Salon. Ohje, wer Conny kennt, der bekommt es gerade mit der Angst. Natürlich waren sie am Nachmittag auf einem langen Spaziergang durch Eulenhausen richtig angefixt worden. Die Obstbäume stehen auf einer Wiese, als sei diese aus Kunstrasen, so satt grün. Die Maulwürfe vorne am Kleinen Jakobsweg scheinen von einer ganz besonderen Sorte zu sein, sie passen scheinbar gar nicht mehr in ihre Unterwelt, bauen sich schon Wohnungen in halber Etage. Wie mag es da unten wohl aussehen, was geht da vor? Dies ist ein Stoff für Geschichten ohne Ende, sozusagen für eine neue unendliche Geschichte, vielleicht eine Stadt der träumenden Maulwürfe – mit Bibliothek? Stellt sich doch die Frage: Wie können Maulwürfe lesen? Lupe? Blindenschrift? Buchstabentöne?
Was Eupelia damit sagen will: Der Tag verging rasant.
Aber dann ist an einem solchen Tag ja immer noch ein langer Abend dran. Da kann man noch sooo viel machen. Das stimmt – wohl.
Abendessen, abwaschen, Edoard in seiner Männlichkeit unterstützen und auch mit ihm ein Brot ansetzen (schwer, dunkel, ganz in Roggen), mit Euphelia schwatzen, in Brotbüchern nach neuen Erkenntnissen suchen, in sozialen Medien Anfragen und Interessen beantworten, in angeforderten Listen neues Saatgut aus alten Sorten für den Literaturpark Eulenhausen bestellen, in Katalogen bezauberndes Sortiment für die BuchBar entdecken und anfragen, die Dusche auf morgen verschieben, wenigstens noch eine Reihe gestrickt haben und mit dem Buch in der Hand in einen tiefen Schlaf fallen, nachdem sich mit einem letzten verschwörerischen Zwinkern vom Mond verabschiedet wurde.
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