Euphelia zieht ihr silbernes Füßlein sachte aus ihrem silbernen Stiefelchen und ganz langsam setzt sie an zu einem ersten Federstrich. Wieder und wieder zögert sie. Wie soll sie diese Tage beschreiben? Nein, es ist kein normales Leben. Nein, es ist nicht wie früher. Wie war früher? Was ist normal? Was heißt DAVOR und DANACH?
Lieber kommt sie zu diesem Augenblick zurück, zum Hier und Jetzt. An vielen Tischen im Gutspark mit seinen alten Kastanien sitzen Gäste. Sie reden in langen Gesprächen miteinander. Bärbel und Heidi haben sich ein Jahr nicht gesehen, vorher nicht gekannt und beginnen ihr Wiedersehen, als hätten sie schon gemeinsam im Sandkasten gespielt. Was für eine Vertrautheit. Rosemarie spielt Didgeridoo am großen Ausguck und hat bereits ihre erste Runde mit Kennerblick durch die Pflanzenwelt hinter sich. Der von ihr gepflanzte Bienenbaum hat sich so üppg entwickelt, daß alle unter ihm wachsenden Pflanzen wahrhaft Untertanen geworden sind. Die aromatische Luft nach einem kräftigen Regen lockt Bienen und Hummeln förmlich an. Eben erst zog ein grummelndes Gewitter über die Sonnenschirme hinweg. Noch immer hört man das Donnern in der Ferne hinter dem Wald. Manch einer flüchtete sich kurz in das Haus, andere rückten einfach unter den Sonnenschirmen zusammen. Silke und Frank standen eng beieinander unter einem Regenschirm vor dem Garten-Salon, den richtigen Schlüssel am großen Schlüsselbund suchend, bis die Sonne sich schon hinter einer Wolke ein Guckloch gebohrt hatte. Der Park atmete unter diesem herrlichen Landregen auf. Zum Glück ist er in diesem Jahr so wild, wie schon lange nicht. Inseln von hohem Grün, verschiedenen Gräsern und bunten Wildblumen locken so viele Insekten an, das man nur staunen kann, wie vielfältig und farbenfroh diese Welt der fliegenden Gesellen ist. Im Garten wurden die ersten tiefroten Stachelbeeren geerntet und der Kuchen danach gelobt. Johannisbeeren reifen, Zucchinis werden immer dicker und länger. Connys Kürbisexperiment entpuppt sich als Umsetzung des Märchens „Der süße Brei“. Auf den Feldern rund um das Gutshaus herum reift das Korn. Hochsommer. Wie schnell die Zeit nach dem Schlüsseltag an der Gutshotelfamilie vorüber huscht.
Nicht nur bei Vollmond in den letzten Tagen haben sie Glühwürmchen beobachten können in den stillen Stunden der verträumten Abende. Lange saßen die Gäste beisammen in lauer Luft, am glimmenden Feuer unter einem sternenklaren Himmel. Manch ein Städter bestaunt hier die Vielzahl der Sterne – ja, hier gibt es eben viele davon, hat Conny geantwortet und leise in sich hinein gelächelt. Dieser Genuß einer puren Sommerabendromantik zeigt so deutlich, was sie alles vermißt haben. Und dabei gehört doch wirklich so wenig dazu. Gestern abend saßen zwei auf den Holzstühlen kuschelnd nahe beieinander, es war bald Mitternacht, und Conny ahnte, dies war ein Abend, an den beide noch lange denken werden. Zeit füreinander und miteinander, die Welt um sich herum einen Augenblick vergessen, der Stille zweisam lauschen. Und doch fällt es Conny gerade schwer, den Regen einfach zu genießen. Die schrecklichen Bilder aus anderen Teilen Deutschlands, irgendwie gar nicht weit weg, überschatten die Schönheit eines Gewitters mit Landregen. Wie ein kleines Mädchen ist sie von der Romantik in ihrem Park verzaubert, hat sie sich in den letzten Monaten wahrhaft neu verliebt in ihr Zuhause, teilt es einmal mehr von Herzen gern mit ihren Gästen, doch gerade die Regengüsse und Überschwemmungen werfen ihr erneut die Fragen nach dem Sinn ihres Lebens vor die Füße. Hat sie ihren Platz gefunden? Tut sie alles, um ihre Spuren in Raum und Zeit glückbringend und wohltuend und nützlich und sinnvoll zu hinterlassen? Ist das, was bisher war, stimmig? Was davon kann sie bewahren? Was sollte sie verändern?
Conny ist sich gerade nicht sicher, ob dies hier aufgeschrieben gehört, aber Euphelia schreibt einfach ohne zu fragen. Sie wird aufpassen in den nächsten Tagen, daß Connys Gedanken sich erst zu Bildern im Kopf und dann zu Worten formen. Man merkt Conny diese Unruhe viel zu schnell an, wenn sie eben alles auf einmal tun will, wenn der Tag nicht ausreicht für ihre Vorhaben und das System der Prioritäten aussieht, als wenn im Bus alle Gäste in der ersten Reihe sitzen wollen, und wenn sie jeden Tag Brot bäckt, sodaß selbst Edoard, der Roggensauerteig, fast aus der Puste kommt.

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